Monday, September 11, 2006

4. Das erste Abenteuer: Rolltreppen

Drei Tage nach der Operation. Gerade eben wurde der Schlauch aus dem Rückenmark gezogen und das Gehen an Krücken geübt.

Kalli passt kaum noch in das von Besuchern überfüllte Zimmer, deshalb schnappt Kim ihre knallroten Krücken und schlägt ein „Spaziergängle“ vor.
Auf dem Flur gesellt sich noch die Flughafenbekanntschaft zu dem munteren Trüppchen und man entfernt sich vom Zimmer.
Nach dem endlos schiefen Kafka-Flur mit langen Holzbänken klettern sie drei Stiegen nach unten und befinden sich im düsteren Erdgeschoss neben der Fäkalienkammer. So ist das hier auf Station 3 der Max-Mil-Klinik in München. Da gibt es ein Fäkalienzimmer.
Aggressive Kunst leitet an der Wand entlang zum einzigen Kaffe-Automaten und dem Kabuff aus Holz, genannt Rezeption.
Nicht unbedingt die Umgebung, in der man lieben Besuch empfangen möchte.
Also lieber kurz raus an die frische Luft.

„Oh ist das schön hier draussen!“
Vorsichtig stockelt Kim Kallis Riesenschritten hinterher, die Flughafenbekanntschaft hält sich in sicherer Nähe.
„Hihi, komm wie gehen einen trinken, hier gibt's doch nette Kneipen“ witzelt sie, denn ihr schlechtes Gewissen erinnert sie daran, dass sie schon hurtig zwei Querstrassen vom Krankenhaus entfernt Richtung U-Bahn stapft und nicht mal dem Pflegepersonal bescheid gesagt hatte.
Kalli dröhnt mit seiner tiefen Stimme „Ja gerne! Na, wie fühlst du dich denn? Du bist ja schon recht fit, oder!?“

Wie so oft in Kims Leben decken sich äußerer Schein und innerer Zustand nicht hundert-prozentig. Aber es ist so toll hier draußen! Nur noch ein paar Schrittchen. So weit es eben geht.
Es geht bis zur U-Bahn Station am Sendlinger Tor, an den Rückweg hatte selbstverständlich niemand gedacht.

Kim ist fertig wie ein Schnitzel, wo ist nur das verdammte Café Mozart!?
Ihre Knie baumeln gummiartig, Schwielen wachsen an den Händen. Das mache ich alles nur fürs Wellenreiten denkt sie sich und bekommt einen Schweißausbruch, als sie sieht, wie Kalli auf den Verkehr zustürmt.

„Wir halten für dich die Autos an, das Café finden wir schon.“
Da fährt auch schon die erste Tram dicht an Flughafen-Bekanntschafts Nase vorbei. Kim röchelt.

„Sollen wir lieber zurückgehen? Du musst das entscheiden, hier, wir nehmen die Unterführung mit der Rolltreppe!“

Super! Mit letzter Kraft hangelt sich Kim zur Rolltreppe und erstarrt augenblicklich vor Schreck. Sie blickt auf ein alles in die Tiefe reißende Laufband und weiß nicht mit welchem Bein sie losgehen muss.

Zuerst die Krücken, operiertes Bein und dann wie beim Stabhochsprung nach vorne kippen und drei Meter tiefer fallen?
Zuerst gesundes Bein, mit Krücken hängen bleiben, nach hinten kippen und sich das Kreuz brechen?

Kalli geht auf der rasanten Treppe kontinuierlich nach oben, die Flughafenbekanntschaft sichert Kim den Rücken. Sie selbst schaltet das denkende Ich aus. Adrenalin pur! Bungee Jumping ist ein Klax dagegen! Sie steht lachend und zitternd auf der Treppe!

Bis sie das Ende der Treppe sieht.

„Hilfe, Kalli, halt`s an, das Ding, mit welchem Bein! Zuerst?!“
„Dem Gesunden natürlich“
„Dem Operierten selbstverständlich“ tönt es zeitgleich von vorne wie hinten.
„Halts an, Halts an!“ kreischt es aus der Mitte.

Ein Ruck, die Treppe hält, Kim fällt. Beinahe. In Kallis Arme.

Warum auch immer, die Rolltreppe steht. Einen Schrecken in den Gliedern stürmen die drei zum nächsten Aufzug.



Zurück im Krankenzimmer sitzt Kim stolz auf der Bettkante und fragt den Chirurgen mit fröhlichstem Lächeln:
„Hallo Professor Manner, wissen Sie, wo ich heute war!? Am Sendlinger Tor!“


Der Manner wurde weißer als die Wand und ging einen Schritt zurück: WO waren sie…!?