Thursday, August 31, 2006

Jeder Moment im Leben ist die Erfüllung eines Wunsches, oder eine neue Herausforderung für die Seele.

0. Auf zu neuen Ufern

Erzählen wollte ich davon, wie sich Kim am frühen Morgen um sechs Uhr auf den Weg machte. Zum Flughafen. Ins Krankenhaus. In ein anderes Leben.

Kim hatte sich entschieden, ihr zu kurz geratenes Bein zu verlängern. So etwas ist heutzutage möglich. Es ist keine besonders heitere Aktion, es geht leider auch nicht über Nacht, aber es geht. Und das Besondere daran, wie es heutzutage geht: durch minimalinvasive Eingriffe wird ein Metallstab mit elektromagnetischem Antrieb im Knochen versenkt. Danach wird das Ganze wieder zugemacht und fertig ist die Präparation, mit der man sein Bein fortan 1 Milimeter pro Tag in die Länge zerren kann. So ungefähr. In aller Kürze.
Mehr zur Technik: www.beinverlaengerung.de

Nun ist es keineswegs so, dass man mit 5 cm Beinlängendifferenz nicht leben könnte, das geht sogar recht gut, mit allerlei Tricks. Schuhe werden durch hässliche Absätze malträtiert, man geht barfuss und stellt dabei das kurze Bein auf die Zehenspitze, manchmal tut es auch ein einzelner Badeschlappen als Schuherhöhung.
Kim trickste hervorragend und blendete die Möglichkeit aus, dass Rückenprobleme und allerlei hässlichge Dinge auf sie zukommen würden. Sie war überdies eine Waserratte, ein Surfer Girl und schaffte es, entgegen ärztlicher Prophezeiungen mit ihrem 5 cm kürzeren Bein und zertrümmerten Kniegelenk ihre Lieblingssportart Sportart auszuüben.

Aber sie bewegte sich auf einer zarten Wolke aus Glas. In regelmäßigen Abständen holte sie die Realität ein, zwang ihr Kreuzbandplastik, Gelenkspiegelung, unermüdliche Krankengymnastik und durch Überlastung entstandene Entzündungen im Surf-Urlauben auf.

Wann genau, warum und wie der Entschluss zustande kam, eine Beinverlängerung durchzuführen und damit 20 Jahren „Schieflage“ ein Ende zu setzen ist schwer zu sagen. Als ihr Inneres Ich sich auf den Deal einließ, sechs Monate an Krücken gegen 50 weiter Jahre ohne Schuherhöhung einzutauschen, ihre Firma sie eben gekündigt hatte, und ihr Freund an all dem kein Interesse zeigte, versteigerte sie kurzerhand das Innenleben ihrer Wohnung bei ebay, ließ den Freund zurück und fuhr nach Spanien. Bevor sie sich ans Messer liefern würde, musste sie noch ein Jahr im VW-Bus durch Südspanien reisen, auf die Stimme des Meeres horchen, Windsurfen, Klettern und Menschen treffen.

Sie musste lange mit ihrem giftigen Kampfgeist ringen, bis sie sich endlich traute den möglichen Risiken die Stirn zu bieten: z.B. die vergleichsweise popelige Versteifung des Beines, Thrombosen, Nichtfunktionieren des Implantates, Knochenmarkseiterung bis hin zum völligen KO, welches aus Aberglauben niemals beim Namen genannt wird.
Aber das zu erwartende Ergebnis war einfach zu umwerfend, die Höhle der Angst zu eng.

Kim hatte alles ordentlich geplant, verschiedene Kliniken besucht, mit Krankenkassen gestritten, auf ihre Ernährung geachtet, das Kiffen aufgegeben und schließlich nach der optimalen Mondphase für den OP-Termin gesucht.



Es war perfekt.

Sie feierte noch mal ordentlich, betrank sich reichlich, verabschiedete sich von Freunden und ihrem kürzeren Bein.

Wie gesagt, es war perfekt.

Aber plötzlich war sie allein. Trieb sich am Flughafen herum und fühlte Trauer. Abschied.

Ups. Wo war noch mal die Perfektion geblieben? Hatte sie die etwa in Berlin vergessen?

Nach der Landung in München war es 9 Uhr morgens. Kim sollte erst um 16 Uhr in der Klinik sein und wusste nun nichts mehr mit sich anzufangen. Wahrscheinlich würde sie die nächsten 5 Stunden ziellos durch München umherwandern um bloß keine Minute zu früh im Krankenhaus aufzuschlagen.
[ Was dann passierte folgt in Kürze ]

„Auf zu neuen Ufern“

Auf besondere Anfrage für das Team der Extremitätenverlängerung.
Berlin im April 2004
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Zu diesem Abschnitt

Eine Geschichte entsteht. Sie ähnelt auf bestechende Art dem kuriosen Alltag Deines Arbeitsplatzes. Oder sie liest sich wie die Beschreibung von diesem lustigen Abend in Deiner WG. Warst du einmal in einem anderen Land, wachsen die Geschichten an den Straßenlaternen zum Himmel empor.

Du, geneigter Leser, meinst, Dich wiederzufinden, in Szenen oder typischen Gesten, die Dich wie selbstverständlich an Dir bekannte Personen erinnern.
Die Geschichte wirkt immer erfunden. Sie ist echt.